Ist es nicht erstaunlich, wie sehr das Problem von Verlust und Wiederherstellung der persönlichen Ehre unsere gesamte Kultur durchzieht, und zwar sowohl in der Literatur (z.B. Die verlorene Ehre der Katharina Blum), Dramatik (z.B. Der Besuch der alten Dame), im Fernsehen (z.B. JAG – Im Auftrag der Ehre), Kino (z.B. House of Gucci) und sogar in Videospielen (z.B. Medal of Honor)? Dieses Thema scheint uns in der sonst eher naturwissenschaftlich orientierten, westlichen Welt enorm zu beschäftigen. Besonders bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass in fast allen der genannten Beispiele Lynchjustiz als probates Mittel zur Wiederherstellung der verloren gegangenen Ehre dargestellt wird. Dieser Umstand steht freilich im krassen Widerspruch zum allgemein vorherrschenden Rechtsverständnis, dem Prinzip der Rechtspflege und nicht zuletzt der Gewaltenteilung. Damit lösen derartige Geschichten Spannung, aber auch Unbehagen aus, weil sie am menschlichen Bedürfnis nach Sicherheit, Ordnung und Geborgenheit rütteln. Wenn man bedenkt, dass einige dieser Geschichten nicht fiktiv sind, sondern einen historischen Kern haben, stellt sich die Frage, wie dem Ehrverlust in der Realität auf eine moralisch angemessene Weise begegnet werden kann.
Die vermeintlich naheliegende Antwort, nämlich auf Christus zu schauen und die Ehre hieraus zu beziehen, stellt aus juristischer sowie aus sozialwissenschaftlicher Perspektive in diesem Fall keine wirkliche Lösung dar. Immerhin handelt es sich bei Ehre per definitionem um ein soziales Konstrukt. Mit anderen Worten: Ehre kann nur haben, wem diese von der Gesellschaft bzw. der ihn oder sie umgebenden Gemeinschaft auch zuerkannt wird. Daher handelt es sich beim Ehrbegriff auch um einen spezifisch menschlichen. Im Tierreich hingegen gibt es keine Ehre, sie spielt dort schlichtweg keine Rolle.
Sowohl Tiere als auch Menschen verfügen jedoch über etwas, das von sozialer Anerkennung gänzlich unabhängig ist und seinen Grund in der schlechthinnigen Geschöpflichkeit alles Lebenden hat, nämlich Würde. In theologischen Überlegungen zur Menschenwürde spielt daher die Gottebenbildlichkeit des Menschen eine zentrale Rolle: weil der Mensch von Anfang an als Ebenbild, d.h. Partner Gottes konzipiert ist, ist ausnahmslos jedes menschliche Individuum absolut unveräußerlich und schützenswert. Die Würde kann und darf einem Menschen daher nicht genommen werden. Sie ist zugleich die unverzichtbare Basis gesellschaftlicher Anerkennung, also die Grundlage der Ehre.
Im Hinblick auf verschiedene, aktuell wütende Kriege in dieser Welt liegt hierin eine große Herausforderung: Kriegspropaganda – ganz egal von welcher Seite – hat grundsätzlich die Tendenz, die jeweiligen Feinde zu entmenschlichen, d.h. ihnen ihre Menschenwürde abzusprechen. Diese Tendenz ist derzeit leider in so mancher öffentlichen Debatte erkennbar. Dies ist jedoch mit einer christlichen Ethik gänzlich unvereinbar. Jesus selbst erinnert seine Nachfolger daran, dass es im Gespräch nicht nur darauf ankommt, was man sagt, sondern auch wie man mit- und übereinander spricht. Seine Worte hierzu könnten kaum drastischer, sein moralischer Anspruch kaum größer sein: „Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Du Nichtsnutz!, der ist des Hohen Rats schuldig; wer aber sagt: Du Narr!, der ist des höllischen Feuers schuldig.“ (Mt 5,22)
Jesus selbst verhält sich folglich völlig anders. Er bezeichnet sogar denjenigen, der ihn an seine Gegner überliefert, noch als „Freund“ (Mt 26,50). Jesus nachzueifern ist damit keine leichte, aber eine notwendige Aufgabe, und zwar deshalb weil dadurch die Würde jedes einzelnen Menschen gewahrt bleibt. Denn jeder einzelne Mensch – ob sympathisch oder nicht – ist und bleibt ein Ebenbild Gottes.
„Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Du Nichtsnutz!, der ist des Hohen Rats schuldig; wer aber sagt: Du Narr!, der ist des höllischen Feuers schuldig.“

Mt. 5,22
Dozent, Studienberater