STUTTGART/KORNTAL (db). Der diesjährige Lebens.Werk-Preis der AWM Korntal wurde am 13. Juli 2023 an Prof. Dr. Lothar Käser (Schallstadt) verliehen.
Lothar Käser hatte großen Einfluss darauf, wissenschaftliche Erkenntnisse in den Bereichen Anthropologie und Ethnologie in die evangelikale Welt Deutschlands einzuführen. Er erforschte den Animismus in Theorie und Praxis und befasste sich mit den Themen Entwicklungszusammenarbeit und Missiologie. Einige Jahre lebte er mit seiner Familie auf Chuuk (ehem. Truk, Mikronesien), zuerst als Lehrer, dann als Bibelübersetzer. Diese Tätigkeit in der kirchlichen Entwicklungszusammenarbeit war für ihn Augenöffner für die Notwendigkeit von ethnologisch‐linguistischer Feldforschung sowie Impuls für das Ethnologiestudium mit anschließender Promotion und Habilitation.
Ab 1976 dozierte Lothar Käser bei Fortbildungen für Missionare – zunächst in Bad Liebenzell, später in Korntal. Seine sehr beliebten Kurse prägten den Beitrag der AWM für Mission und Gemeindearbeit entscheidend mit. Er begleitete Masterarbeiten, die wertvolle Forschungsergebnisse brachten und für viele Studierende Neuland erschlossen. Auf Studienreisen unterstützte er Studierende bei ihrer Feldforschung.
Vor allem Käsers Bücher „Fremde Kulturen“ und „Animismus“ sind Referenzwerke und Grundlagen vieler Studienkurse. Mit zahlreichen Aufsätzen und wissenschaftlichen Veröffentlichungen trug er dazu bei, dass Missionare wesentliche Hinweise für den Umgang mit Menschen aus animistischen Kulturen und für die interkulturelle Verkündigung des Evangeliums bekamen.
Im Interview mit AWM-Rektor Dr. Peter Westphal wurde nicht nur Professor Käsers Faszination für die Zusammenhänge von Sprache und Weltbild deutlich, sondern auch sein persönliches Anliegen, Menschen zu verstehen und Verständnis zu fördern (s. Interview im Anschluss).
In seiner Laudatio zeichnete Detlef Krause, früherer Student Käsers und ehemaliger Leiter der Liebenzeller Mission, den beeindruckenden Lebensweg des Preisempfängers nach. Dabei ging er sowohl auf dessen immenses akademisches Leistungsvermögen ein, als auch auf sein pädagogisches Geschick, mit dem er seine Forschungsergebnisse für Studierende fruchtbar machte.
Einen angemessen internationalen Rahmen für die Preisverleihung bot die bunte Zusammensetzung des Publikums: Neben den geladenen Gästen – Familie, Freunde und Wegbegleiter Professor Käsers – waren auch Studierende der englisch- und arabischsprachigen Kurse anwesend, die in dieser Woche stattfanden.
Der Lebens.Werk-Preis
Wie der Titel des Preises „Lebens.Werk“ schon verrät, erhalten die Preisträger die Auszeichnung nicht für eine einzelne, herausragende Leistung. Ihr Leben und Wirken werden als Gesamtes ausgezeichnet. Der Lebens.Werk-Preis will Menschen würdigen, die ihr Leben in interkulturellen Kontexten eingebracht und wesentliche Beiträge geleistet haben in der Bildungs- und Entwicklungszusammenarbeit, im Gemeindeaufbau, in der Wertschätzung und Unterstützung von Minderheiten.


Dr. Peter Westphal, Rektor der AWM Korntal, und Professor Dr. Lothar Käser

Chuuk (Foto: Marek Okon / unsplash.com)

Detlef Krause hielt die Laudatio

Prof. Dr. Lothar Käser im Interview mit Dr. Peter Westphal
Professor Käser, Sie waren lange Zeit in Mikronesien, auf der Insel Chuuk, haben dort gelebt und gearbeitet. Dabei haben Sie die Bedeutung ethnologisch-linguistischer Feldforschung erkannt. Was genau ist Ihnen dabei aufgefallen? Warum wurde dieses Thema für Sie so wichtig?
Sehr schnell aufgefallen ist mir 1. die Tatsache, dass Sprachen, die unterschiedlichen Sprachfamilien angehören, sehr unterschiedliche Grammatikstrukturen aufweisen können, 2. die Tatsache, dass die jeweiligen Grammatikstrukturen Denkstrukturen darstellen, die dazu führen, dass die Sprecher die sie umgebende Wirklichkeit unterschiedlich begrifflich ordnen und auch wahrnehmen, 3. die Funktion von Sprache als Erkenntnisinstrument und damit auch als Forschungsinstrument. Dazu ein paar wenige Beispiele:
Ich war Lehrer an einer Junior High School. Die Unterrichtssprache, die ich benutzte, war Englisch, eine Sprache mit der Grammatik indoeuropäischer Sprachen wie die meiner Muttersprache. Meine Schüler benutzten eine austronesische Sprache. Sie wunderten sich darüber, dass ich einen Satz wie „The water is clean“ als korrekt durchgehen ließ, „The water is flow“ aber als falsch rot anstrich. Ich erkannte daran, dass in ihrer Sprache „clean“ und „flow“ begrifflich nicht unterschieden werden in Zustand und Vorgang, sondern dass für sie beides Zustände sind und folglich von ihnen als Adjektive wahrgenommen werden. Ähnliches gilt für die Tempora, die Zeitformen beim Verb, in indoeuropäischen Sprachen hoch differenziert. In der Chuuksprache gibt es im Wesentlichen nur zwei Zeitformen. Vergangenheit und Gegenwart sind in einer einzigen Zeitform zusammengefasst. Meine Schüler verstanden also zunächst überhaupt nicht, wovon ich sprach, wenn ich „I go“ als present tense, „I went“ als past tense bezeichnete.
Als Lehrer hätte ich solche Verhältnisse unbedingt kennen müssen, um den zu unterrichtenden Stoff so zu strukturieren, dass meine Schüler ihn mit ihrem Sprachrahmen verstehen konnten. Damit bin ich bei der Tatsache, dass Sprache nicht nur Kommunikationsmittel, sondern auch Erkenntnisinstrument ersten Ranges ist. Auch für Missionare gilt das in abgewandelter Weise ebenfalls. Kaum jemand ist am Anfang darauf gefasst. Manche erkennen das nie, mit fatalen Folgen für ihre Arbeit.
Für die Semantik, also die Bedeutungslehre und damit für die ethnologischen Aspekte wichtig wurde mir die Erkenntnis, dass Sprache ein höchst wesentliches Mittel zur Kartografierung der Wirklichkeit und damit zur Kartografierung von Kultur ist. Sprache bildet Wirklichkeit zwar nicht eins zu eins ab. Aber alles, was in einer Gesellschaft wichtig ist, tritt in ihrer Sprache in prominenter Form auf. Wichtige Bereiche weisen entsprechend ein dichteres Begriffsnetz auf, das wort- und formenreicher ist als weniger wichtige. Und diese Bereiche muss man als Fremder besonders in den Blick nehmen und kennen lernen.
Damit gewährt die Sprache einer Volksgruppe Zugang zu ihrem Denkrahmen. Daraus ergeben sich zwei Funktionen von Sprache allgemein. Sie ist Erkenntnisinstrument, das erwähnte ich schon, und damit Forschungsinstrument. Will man spezielle Denkformen untersuchen, ergeben die dazugehörigen Sprachformen besonders gute Ergebnisse. Ein eindrückliches Beispiel war für mich der Bereich des Menschenbildes der Insulaner, darunter besonders ihre Seelenvorstellungen, die ich in meiner Dissertation beschrieben habe. Als ich diese streng linguistisch untersuchte, erkannte ich schnell, dass der europäische Begriff Seele als Sitz der Emotionen und als das Wesen, das den Tod des Körpers überlebt, auf Chuuk völlig getrennte Konzepte sind. Forschungen, die nach mir mit dieser Methode unternommen wurden, zeigen deutlich, dass die Mehrzahl der Gesellschaften der Welt diese Art Begrifflichkeiten besitzen und dass deren Bibelübersetzungen, gemacht von Europäern mit ihrem Seelenkonzept, nicht selten erschreckend unverständliche Darstellungen in diesem Bereichs aufweisen. Solche Zusammenhänge waren für mich faszinierend und machten mir immer wieder deutlich, dass man Religionskomplexe fremder Kulturen nur einigermaßen richtig verstehen kann, wenn man deren Sprache gut kennt.
Wichtig war für mich auch, dass ich mir die Frage stellen lernte, wie wissenschaftliche Erkenntnis zu sehen ist und ob sie als objektiv gelten kann, wenn sie fast ausschließlich in den Wissenschaftssprachen Englisch, Deutsch, Französisch, Spanisch und Portugiesisch protokolliert werden, alles Sprachen mit indoeuropäischer Grundstruktur.
Sie haben begonnen, in einem fernen Land unter Menschen einer ganz anderen Kultur zu arbeiten, als Lehrer und dann Bibelübersetzer – quasi als Missionar im traditionellen Sinne. Dann sind Sie aber nach Deutschland zurückgekehrt, um als Dozent, und später als Professor, der deutschsprachigen christlichen Welt zu dienen. Wie haben Sie diesen Schritt erlebt und was lag Ihnen dabei besonders am Herzen?
Nach Deutschland zurückgekehrt bin ich, weil ich es aus dienstlichen Gründen musste. Ich war bei der Ausreise mit meiner Familie 1969 Studienrat, also Landesbeamter, und als solcher auf fünf Jahre für die Liebenzeller Mission und die Evangelical Church of Chuuk nach Mikronesien beurlaubt. In diesem Zeitraum hatte sich Bedeutendes ereignet.
Im Jahr unserer Rückkehr 1974 hatte sich die Lausanner Bewegung formiert, als Gegenentwurf zur 1948 gegründeten ökumenischen. Die Liebenzeller Mission stand auf Seiten der Lausanner Bewegung. Man plante eine neue Akademie, die jetzige AWM Korntal und bat mich um die Mitarbeit, wobei ich dezidiert die Ethnologie vertreten sollte, die damals eigentlich noch in der evangelikal orientierten Missionswissenschaft als Diabolos schlimmster Art galt.
Weil ich selbst auf Chuuk erkannt hatte, wie wichtig das Wissen, das die Ethnologie bereitstellt, für Missionare, Bibelübersetzer und übrigens auch für Entwicklungshelfer ist, sagte ich meine Mitarbeit zu, nachdem ich 1977 meine Dissertation fertig hatte. Dann brachen die Dinge allerdings etwas über mich herein. Wycliff Deutschland und andere Missionswerke wollten, dass ich mitarbeite, mein Doktorvater in Freiburg wollte, dass ich mitarbeite, indem er mir vorschlug, mich zu habilitieren. Das alles war für mich natürlich sehr verlockend, und weil ich nicht gut nein sagen kann, führte das zeitweilig zu Überbelastungen. In der Rückschau aber finde ich, dass es mir auch ein erfülltes Leben erbracht hat.
Sie haben lange hier in Korntal unterrichtet und auch die AWM in dieser Zeit mitgeprägt. An welche Highlights erinnern Sie sich gerne zurück?
Da war zunächst die Verleihung des George W. Peters Preises im Jahr 1998 nach dem Erscheinen von „Fremde Kulturen“, meiner Einführung in die Ethnologie. Dann war ein besonderes Highlight die für mich besonders befriedigende Zusammenarbeit mit der Administration der Akademie unter dem Rektorat von Traugott Hopp und seinem Stab. Als besonders eindrücklich empfand ich auch Szenen im Unterricht, in denen Studierende zu erkennen gaben, dass sie bei der Behandlung eines bestimmten Themas etwas empfanden, was man volkstümlich ein Aha-Erlebnis nennt. Es geschah manchmal sogar lautstark, und das gefiel mir deshalb so gut, weil es mir bewies, welches Gewicht die Ethnologie in solchen Augenblicken für den Betreffenden angenommen hatte. An ein bestimmtes Ereignis dieser Art erinnere ich mich besonders deutlich. Das Thema an diesem Tag war die sogenannte Sapir-Whorf-These, die besagt, dass die Kategorien einer Sprache einen entscheidenden und gelegentlich dramatischen Einfluss auf das Handeln ihrer Sprecher haben. Die Beispiele, die von den beiden Autoren der These angeführt werden, waren für den damals Studierenden dermaßen überraschend und trafen bei ihm auf Interesse, dass er das deutlich zu verstehen gab. In solchen Augenblicken wurden solche Themen dann für die Betreffenden hoch motivierend, bestimmten ihre weitere Tätigkeit und führten nicht selten zu bedeutenden Dissertationen, auch hier im Haus.
Solche Aha-Erlebnisse erlebte ich nicht selten bei älteren Missionaren, die zur Fortbildung nach Korntal kamen. Sie hatten eine Fülle von konkreten Erlebnissen angesammelt, die für sie unerklärlich bis bizarr erschienen, aber mit der dazugehörigen ethnologischen Theorie plötzlich Sinn machten. Für mich brachte das die Erkenntnis, dass einfache Beobachtungen der Wirklichkeit nicht zwangsläufig zu den richtigen Theorien führen, die hinter der betreffenden Wirklichkeit stehen.
Sehr eindrucksvoll für mich waren auch Begegnungen mit Studierenden, die nach einem ersten Feldaufenthalt gescheitert waren oder ihre Tätigkeit abbrechen mussten, weil sie in ihrer Unerfahrenheit mit den lokalen Verhältnissen beispielsweise den afrikanischen Bischof direkt und öffentlich auf die Hörner nahmen, wenn sie auf finanzielle Unregelmäßigkeiten gestoßen waren. Diese Studierenden, oft am Boden zerstört, galt es wieder aufzubauen, indem sie Themen zu bearbeiten bekamen, an denen sie ihre Defizite aufarbeiten konnten. Das ergab oft eine zweite Chance für die Betreffenden.
Sie haben sich viele Jahrzehnte für das Verstehen anderer Kulturen und gelingende Kommunikation mit anderen Völkern eingesetzt. Gibt es für Sie in diesem Bereich Aufgaben, die unerfüllt geblieben sind oder die Forschende und Lehrende der jetzigen Generation aufgreifen sollten?
Forschungsbedarf besteht weiterhin auf einer ganzen Reihe von Feldern. Die Lehrer aus einer bestimmten Generation müssen sich darauf einstellen, dass mit jeder neuen Generation von Studierenden das Problem der Fixierung auf ein europäisches Weltbild von vorn angegangen werden muss. Die Betreffenden können nicht kulturneutral aufwachsen, sondern übernehmen die entsprechenden Strukturen und Wertevortellungen unmittelbar aus ihrer soziokulturellen Umgebung.
Das ist einerseits völlig normal und auch wichtig, gleichzeitig aber auch ein bisschen deprimierend, weil es uns bei der Wahrnehmung kulturfremden Verhaltens und Denkens erheblich behindert. Man kann so geprägte Studierende auf die Offenheit für ein fremdes Denksystem vor einem ersten Praxiseinsatz vorbereiten. Richtig lernen können sie es nur im Lebensbezug der betreffenden Menschen. Die Vorbereitung auf diesen Lernprozess ist die vornehmliche Aufgabe, die sich die Forscher und Lehrer der jetzigen Generation nachdrücklich und immer wieder neu vornehmen müssen.