Integration ist keine Einbahnstraße

Integration ist keine Einbahnstraße

Jede Zeit hat ihre Schrecken, das war schon im Alten Testament so und ist bis heute so geblieben. Ein Beispiel, dem Schrecken die Stirn zu bieten, finden wir im Buch Daniel, als der mächtigste König seiner Zeit, Nebukadnezzar, einen Traum hatte und „sein Geist wurde beunruhigt, und sein Schlaf war für ihn dahin“ (Dan. 2,1). Die beauftragten Experten erkannten ihre menschliche Grenze, sagten, dass nur die Götter helfen könnten, die für sie nicht greifbar waren. Aber Daniel glaubte an einen Gott, der über alle Grenzen hinweg das Tiefe und Verborgene offenbart. Daniel - trotz seiner Gefangenschaft und seines Daseins als Migrant, weit entfernt von der ihm vertrauten Umgebung, Mitmenschen und Kultur - suchte in Gott seine Zuflucht, denn er hatte längst erkannt: ER hat alle Fäden in der Hand, „ER ändert Zeit und Stunde“ (Dan. 2,21).

Haben wir jetzt in der Corona-Krise, in der Zeit des aufkeimenden Rassismus, oder durch die Probleme, die durch eine große Anzahl von Migranten verursacht werden, Gott nicht auch schon die Frage gestellt, was ER in dieser Zeit von uns will?

Seit mehr als 20 Jahren lebe ich nun schon in Deutschland, meiner Wahlheimat. Zu keinem Zeitpunkt fühlte ich mich unsicher, wofür ich sehr dankbar bin. Deutschland bietet unendlich viele Möglichkeiten der persönlichen Weiterentwicklung und Entfaltung, wenn man bereit ist, sich einzubringen und zu integrieren.

Die Krawalle kürzlich in der Stuttgarter Innenstadt bewegten mich zutiefst und verärgerten mich gleichzeitig, denn die Beteiligten treten mit dieser Aktion nicht nur ihre eigene Zukunft mit Füßen, sondern auch die, all derer, die sich gesellschaftskonform verhalten und gerne hier leben. Im Gastland sollten die eigene Integration und das Verständnis für das Land im Vordergrund stehen, um ernst genommen zu werden. Mit Aktionen, wie die in Stuttgart, kommt die berechtigte Frage auf, ob Integration gescheitert ist. Oder haben wir einfach noch einen langen Weg vor uns?

Ein gutes Zusammenleben, Zusammenarbeiten und die Akzeptanz anderer erfordern kulturübergreifende Kenntnisse und den Willen, sich aufeinander zuzubewegen. Unsere Gesellschaft wird immer multikultureller und unterliegt einem rasanten Wandel, dem sich keiner entziehen kann. Jeder steht in der Pflicht, seinen Teil dazu beizutragen, dass Migranten in Deutschland Fuß fassen, denn Integration ist bei weitem keine Einbahnstraße. Nur ist die Frage, wie?

Integration ist ein Prozess für alle Beteiligten: Migranten müssen ihren Weg finden, und die Mehrheitsgesellschaft wird aufgefordert, dazu beizutragen, dass dieser Weg geebnet wird. Die Begegnung auf Augenhöhe ist ausschlaggebend, damit sich unsere Gesellschaft nicht spaltet oder Migranten an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden.

Es gilt, mit seinem persönlichen Einsatz einen bleibenden Beitrag der Integration zu leisten, um ein friedliches Miteinander zu erlangen. Darin sehe ich die Chance, der Gesellschaft ein Gesicht zu geben, das sich sehen lassen kann. Dies geschieht nicht durch Angst oder die Instrumentalisierung von ernsthaften Themen wie Rassismus oder Verschwörungstheorien.

Integration ist kein Anhängsel oder läuft nebenher, es ist eine erlernte oder eingeübte Haltung, die Wissen voraussetzt und gleichzeitig den Willen, den mir Fremden zu respektieren und zu achten.

Mit der Seminarreihe „Cross(ing) Cultures“ sind wir am Puls der Zeit, möchten damit herausfordern und zum Nachdenken anregen. Warum behaupten wir, dass wir Integration schaffen können? Wir glauben, dass Gott in Christus uns das beste Handwerkszeug dafür mit auf den Weg gegeben hat: Jeder Mensch ist ein Ebenbild Gottes. Daher kommen unsere Würde und auch die Fähigkeit des gegenseitigen Respekts und der Anerkennung.

Yassir Eric
(Dr. theol., Kirchliche Hochschule Wuppertal/Bethel, M.A. Ev. Theologie, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, M.A. Missiologie, Columbia International University). Er ist Theologe, Missiologe, ausgewiesen ...
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01.07.2020