Menschenfreundlich?

Menschenfreundlich?

Ein Blick auf die Uhr sagt mir: Es reicht noch! Ich habe genügend Zeit, beim Umsteigen in einer der Bahnhofsbäckereien noch einen Kaffee und ein Brötchen zu kaufen. Prima!
Ich bestelle und will zahlen. Da werde ich angesprochen. Flüchtig hatte ich die Gestalt schräg hinter mir schon wahrgenommen. Älter, nicht unbedingt sehr vertrauenserweckend, offensichtlich nicht zum „Mainstream“ der Reisenden gehörend. Ein „Penner“ (in Gedanken ist meine Sprache nicht immer politisch korrekt). In genuscheltem „Ausländisch“, das sich als Polnisch herausstellt, gibt er mir zu verstehen, dass er Hunger hat. Ob ich ihm ein Brötchen kaufe?

Die Zeit reicht. Außerdem helfe ich lieber mit Essen, als einen Beitrag zu hochprozentigen Getränken zu liefern. Ich nicke dem Mann zu, nehme Kontakt mit der Verkäuferin auf. Sie scheint nur bedingt begeistert. Der polnische Mann sucht sich ein Käsebrötchen aus. Ich bezahle. Er bedankt sich – sogar in Deutsch. Ich nicke wieder – und eile weiter. Zunächst mit dem Gefühl: „Das habe ich jetzt richtig und gut gemacht“.

Auf meinem Platz im Anschlusszug habe ich es mir bequem gemacht. Die Unterlagen zum Vorbereiten des Seminartages liegen vor mir. „Zusammenleben der Kulturen – christliche Gemeinden als Modell?“ – so das Thema. Eines meiner Herzensanliegen. Ich freue mich auf den Tag…

Dann erscheint der polnische Mann wieder vor meinem inneren Auge. Ja, ich habe ihm seinen Wunsch nach einem Brötchen erfüllt. Aber bin ich ihm wirklich begegnet? Habe ich ihn als einen von Gott geliebten Menschen wahrgenommen? Oder mit meiner „milden Gabe“ im wahrsten Sinne des Wortes „abgespeist“? Ihn mit meiner achtlosen Freundlichkeit noch gedemütigt? Dabei geht es gar nicht darum, eine kleine private Bahnhofsmission zu starten, meinen Zug zu verpassen, den Seminartag abzusagen…  –  alles nicht nötig.
Ein bewusster Blick, eine freundliche Geste, die Einladung zu einem Kaffee als Ergänzung zum Brötchen und zum Schluss ein fester, zugewandter Händedruck…  – so hätte ich es machen können. Warum fällt mir das erst jetzt ein? Ich bin beschämt, unzufrieden und traurig.

Wir kommen von Weihnachten her, haben die „Menschenfreundlichkeit Gottes“ gepredigt, besungen und diese in Geschenken an unsere Lieben zum Ausdruck gebracht. Diese Menschenfreundlichkeit Gottes hat mich von meiner Geburt an umgeben. Tausende von ermutigenden Blicken, freundlichen Gesten, liebevollen Geschenken haben mein Leben erfüllt. Warum fällt es mir so schwer, davon spontan, herzlich und zugewandt weiterzugeben?
„Darum ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen“(Titus 2,11) – auch dem polnischen Mann im Bahnhof, nicht wahr?

„Guter Gott, beschenke mich mit der Freiheit, aus meinen Rollen, eingeklemmten Vorstellungen, Befangenheiten herauszutreten. Gib mir die spontane Herzlichkeit, den Mut und die Weisheit, andere an deiner Menschenfreundlichkeit teilhaben zu lassen. Amen.“

Traugott Hopp
Der gebürtige Hesse studierte Theologie am Theologischen Seminar Tabor und an der Trinity Evangelical Divinity School in Deerfield, Chicago (USA). Seine Studienschwerpunkte waren Altes Testament und Mission ...
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01.01.2017