Ich stehe in der Wohnung meiner inzwischen verstorbenen Großeltern und schaue aus dem Fenster. Genauso wie ich es schon als Kind, wenn ich zu Besuch oder im Urlaub war, unzählige Male getan habe. Wann immer mich damals mein Opa dabei beobachtete, stellte er sich neben mich, zeigte Richtung Horizont und sagte: „Da drüben ist der Hasenwald.“ Mein Blick fiel dabei jedes Mal auf die Pappelallee am Ende der Wiese. Und jedes Mal aufs Neue wunderte ich mich über diesen sogenannten Wald, der mir ziemlich armselig erschien: gerade einmal zwei Baumreihen, nur eine einzige Baumart und große Lücken zwischen den einzelnen Bäumen, sodass man geradewegs durch den vermeintlichen Wald hindurchschauen konnte und noch immer kann.

„Ich sah nur die Ansammlung von Bäumen unmittelbar vor mir, während ich den dahinter liegenden Wald gar nicht bewusst wahrnahm.“

Paradoxerweise fiel mir trotz dieser Tatsache als Kind nicht auf, dass auf dem Hügel hinter der Allee ein tatsächlicher Wald liegt, ein großer, dunkler und dichter Wald sogar. Erst später wurde mir bewusst, dass mein Opa von jeher genau diesen gemeint hatte. Um diesen zu sehen, fehlte mir als Kind jedoch offenbar der Weitblick. Ich sah nur die Ansammlung von Bäumen unmittelbar vor mir, während ich den dahinter liegenden Wald gar nicht bewusst wahrnahm.

Aus heutiger Sicht erinnert mich diese kindliche und bruchstückhafte Wahrnehmung an 1. Korinther 13,12. In diesem Vers schreibt Paulus im Hinblick auf die Ewigkeit in der Gegenwart Gottes: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht.“ Zugegebenermaßen funktioniert diese Analogie heutzutage nicht mehr sehr gut, da die Reflexion eines Objektes auf einem gläsernen Spiegel nahezu ebenso klar ist wie die unreflektierte optische Erscheinung des Objektes selbst. Anders ausgedrückt: Das Gesicht einer Person und das Spiegelbild desselben sind nur dadurch unterscheidbar, dass Letzteres seitenverkehrt ist. Was hingegen Schärfe, Detailtreue, Helligkeit usw. anbelangt, sind beide einander ebenbürtig.

„Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht.“

Blickt man hingegen in einen metallenen Spiegel aus dem ersten Jahrhundert, wie Paulus ihn besessen oder benutzt haben wird, wird deutlich, was der Apostel mit dem oben genannten Vers meint: Die Reflexion ist schwach, unscharf, dunkel und verzerrt. Zwar lassen sich durchaus Personen erkennen, jedoch praktisch keine Details.

Umso bemerkenswerter ist allerdings, dass Paulus an dieser Stelle nicht etwa darum wirbt, sich um mehr Weitblick zu bemühen. Vielmehr betont er die Wichtigkeit eines weiten Herzens. Der Kern des Auftrags in der Nachfolge Jesu ist also nicht etwa Erkenntnis, Weisheit, Wissen oder gar Prophetie, sondern schlicht und ergreifend tätige und einander dienende Liebe. Sich hierauf immer wieder zu besinnen, bewahrt vor ziellosen Auseinandersetzungen oder gar Spaltungen und gibt der Theologie eine gesunde Richtung vor.

„Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ (1. Korinther 13,13)

Magnus Großmann

Dozent CIU Korntal

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